ADHS oder Ein kindlicher Hilferuf
Ursprünglich entwickelt wurde die Vorstellung eines Dopaminmangels allein aufgrund der Beobachtung, dass die Gabe von Substanzen, die die Dopaminfreisetzung im Gehirn stimulieren, zu einer Verringerung der Symptomatik bei Hyperkinetischen und Aufmerksamkeitsgestörten Kindern führte. So lautete die Schlussfolgerung, dass die Ursache dieser Störung eine unzureichende Aktivität des dopaminergen Systems im kindlichen Gehirn sei.
Dass die bereits damals als Aufputschmittel bekannten Amphetamine noch weiter antriebssteigernd wirken und die Impulskontrolle noch weiter senken müssten, hat die frühen Vertreter dieser Theorie damals wenig gestört. Genauso wenig wie die Tatsache, dass sie zur Stützung Ihrer Hypothese nichts weiter vorzuweisen hatten als eben die beobachtete Besserung der Symptomatik nach der Verabreichung von Amphetaminen.
Bislang konnte ein Dopamindefizit im Gehirn nicht nachgewiesen werden.
Bei der über die Ursache von ADHS entwickelten Vorstellung bestand der praktische Wert der alten Theorie überwiegend darin, dass letztere sich gut zur Erklärung und Begründung einer medikamentösen Behandlung mit Psychostimulanzien eignete. Man ging also von einer angeborenen organischen Störung in Form von Dopamindefizit aus.
Nach heutigen Erkenntnissen Ist diese Theorie nicht mehr haltbar.
Tatsache:
- Es gibt Kinder mit einer besonderen Vulnerabilität, die besonders leicht dazu neigen, eine derartige Verhaltensstörung zu entwickeln. Aber oft wird dies durch familiäre und soziale Bindungen, unter denen die Kinder aufwachsen, beeinflusst.
- Das Gehirn eines Kindes, welches eine solche Verhaltensstörung aufgrund ungünstiger Startbedingungen und/oder herausfordernder familiärer und sozialer Verhältnisse entwickelt hat, ist anders strukturiert und organisiert als das Gehirn eines nicht betroffenen Kindes. Diese Veränderungen betreffen aber nicht nur das dopaminerge System, sondern alle Hirnbereiche und neuronalen Netzwerke, die an der Regulation motorischer Aktivität, Aufmerksamkeit und Impulsivität beteiligt sind.
- Eine Behandlung, die es dem Kind ermöglicht, diese bisher nicht hinreichend ausgeformten, neuronalen Verschaltungen fortan intensiver und erfolgreicher als bisher zu nutzen, führen auch zu einer entsprechenden strukturellen Verankerung dieser neuen Erfahrungen und damit zu einer Veränderung des Gehirns dieser Kinder.
Demzufolge muss sich daraus ableiten lassen:
- Eine Ausbildung dieser Verhaltensstörung ist durch gezielte, präventive Maßnahmen verhinderbar.
- Die Ausprägung dieser Verhaltensstörung keine singuläre Störung eines bestimmten Transmittersystems.
- Die Behandlung dieser Verhaltensstörung mit Psychostimulanzien kann keine tragfähige Strategie zur nachhaltigen Korrektur einer komplexen und durch das Zusammenwirken unterschiedlicher Faktoren bedingten Fehlentwicklung sein.
Sozial- und Erziehungsfaktoren können ungünstige Faktoren und Bedingungen auf die Strukturierung des kindlichen Gehirns darstellen, welche eine effiziente Herausbildung und Ausformung von neuronalen Verschaltungen zur Steuerung der motorischen Aktivität, zur Regulation der Aufmerksamkeit und zur Impulskontrolle behindern.
Ein Mensch entwickelt sich nie alleine, er kommt mindestens „zu zweit“ vor. Kinder beziehen sich anfänglich ganz auf ihre Eltern. Sie sind abhängig von deren Wahrnehmung, und Handlungen. Später reagieren sie in Kindergarten und Schule auf Einflüsse von Erziehern und Lehrern. Frühe Erfahrungen hinterlassen besonders tiefe Spuren in der Gehirnstruktur und sind entscheidend an der weiteren Nutzung des Gehirns und der Ausprägung der kindlichen Persönlichkeit beteiligt.
- Hochaktive Kinder mit überdurchschnittlichen Energieausstattung suchen solche Herausforderungen, die ihnen körperliche und emotionale Ausdrucksmöglichkeiten bieten können.
- Eine klare Führung, die ihre Begabung gelten lässt, ist am Platz, wenn Kinder schon früh ihre Tendenz zur Selbstbestimmung erkennen lassen, die sie in Konflikt mit den notwendigen Grenzen und Regeln bringt.
- Impulsive Kinder müssen an Disziplin herangeführt werden. Um ihre Vitalität mit Einübung von Geduld in konstruktive Bahnen zu lenken, muss ihnen die Gelegenheit gegeben werden, den Nutzen von Disziplin und Selbstbeherrschung zu verstehen.
- Schöpferische Begabung äußert sich bisweilen im Tagträumen und verlangt das Angebot von kreativen, künstlerischen Erfahrungsmöglichkeiten
- Empfindsame, scheue und ängstliche Kinder sind auf die verständnisvollen Reaktionen von ebenfalls sensiblen Erwachsenen angewiesen, die ihnen Sicherheit bieten können.
Nimmt ein Elternteil seine Verantwortung nicht wahr, versuchen die mitfühlenden Kinder auch schon in sehr frühem Alter, den alleingelassenen Partner zu unterstützen. Empfindsame und gut begabte Kinder sind besonders gefährdet, sich mehr zuzumuten, als sie verdauen können. Durch ihre „dünne Haut“ scheint alles aus ihrer Umgebung schutzlos auf sie einzudringen. An Stimulation orientiert, nehmen sie das Geschehen in ihrem unmittelbaren Umfeld feinfühlig wahr. Was sie nicht bewältigen können, findet vielleicht Ausdruck als gesteigerter Bewegungsdrang, als „Taubheit“ nichts mehr hören zu wollen – oder als Aufmerksamkeitsstörung.
Die Psychoanalytikerin Alice Miller hat bereits 1983 Kinder beschrieben, die das unbewusste Erleben der Eltern erfühlen können. Sie sind ihrer Meinung nach der Wahrnehmung solcher Impulse schutzlos ausgesetzt und realisieren unter Vernachlässigung ihrer eigenen Bedürfnisse, was Angelegenheit der Eltern wäre. Daraus entsteht ein Verhalten, das andere Ursachen als einen biologischen Defekt hat.
Kinder müssen vor überlastenden Erfahrungen geschützt werden.
Durch Einfluss digitaler Medien schwindet der Schutzraum für Kinder zunehmend immer mehr. Unmengen an Medien für Kinder jeden Alters schwappen in die Familien, überfluten und überfordern die kindlichen Gehirne mit faszinierenden audiovisuellen Angeboten mit aufgezwungenem Tempo. Stimulusabhängige Kinder benötigen dagegen eine sorgsame Dosierung des Informationsflusses.
Manche pädagogischen Konzepte überfrachten das Kind mit allzu schwer verdaulichen Informationen. Daher kann ein ausreichend begabtes Kind Schwierigkeiten zeigen, weil ihm das aufgrund seelischer Belastungen vorgegebene Tempo zu hoch ist.
Ein impulsives Kind gibt häufig viel zu früh auf, weil es jede Hürde im ersten Anlauf überwinden will. In jedem Fall droht eine Verstörung des Kindes, wenn ein allzu starres schulisches Konzept die individuelle Lage des Kindes gar nicht oder nur unzureichend berücksichtigt (vgl. Integrationsprobleme hochbegabter Kinder). Diese Kinder können das Vollbild des ADHS entwickeln, wenn sie sich langweilen, wenn ihr Lerneifer und ihr Auffassungstempo nicht gelten dürfen.
Fazit:
Das therapeutische Kunststück besteht nun darin, eine positive Gegenseitigkeit wiederherzustellen. Beide Seiten – Eltern und Kinder – sollen sich angesprochen und verstanden fühlen und in Bezug auf den anderen handeln.
Erst wenn alle gewinnen, keiner verliert, können pädagogische und therapeutische Wege fruchtbare Ergebnisse bewirken.
Quelle: 1